Abbildung: "Flechtarbeit Frieda Böhm, vermutlich 1909"


FRÖBEL 2020

AUSSTELLUNG IM MUWA

4. 12. 2014 - 20. 3. 2015

 

Die Ausstellung "FRÖBEL 2020" zeigt grafische Arbeiten aus dem Berliner Archiv, die bis dato wissenschaftlich unbearbeitet lagern und vor zwei Jahren wegen ihrer Brillanz, ihrer leuchtenden Farben, ihres systematisch anmutenden Variantenreichtums und zugleich ihrer betörenden Einfachheit die Aufmerksamkeit des MUWA erregt haben. Eine Auswahl von Musterbögen, die auf Friedrich Fröbels Vorschläge zurückgehen und um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden sind, werden in sieben Vitrinen und zahlreichen Bildkästen in ihrer historisch bedeutsamen Präsentation gezeigt.

 

Dr. BETTINA REIMERS, Archivleiterin Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin spricht im Rahmen der Eröffnung am 4. Dezember 2014 zum Thema "EIN UNERFORSCHTER SCHATZ – Verborgenes Archivmaterial auf Ausstellungsreise: Friedrich Wilhelm Fröbel und seine Spielgabe" und Prof. EUGEN GOMRINGER, Gründer des Institutes für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie in Rehau über "DIE KUNST IST EINE ALTE DAME – Eine Theorie sucht ihre Grundlagen: Das Spielmaterial von Friedrich Fröbel – eine frühe Vorwegnahme des Experimentierens mit konstruktiven Formen".

 

Mit der Eröffnung der Ausstellung „FRÖBEL 2020“ wird der Grundstein für ein EU-Projekt gelegt, das zehn Kultur-Institutionen in vier Ländern Europas verbindet, ein Partner ist das Vasarely Museum in Budapest. Frau GYÖRGYI IMRE, PhD, Chefkuratorin am Vasarely Múzeum, Gast der Eröffnung, zeigte sich umgehend interessiert, an diesem Projekt teilzunehmen, da Fröbel großen Einfluss auf die Erziehung in Ungarn von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als Kindergartengründer hatte, aber genauso auch durch seine gestalterischen Grundlagen.


Im Anschluss an die Präsentation im Grazer MUWA wurde die Ausstellung "FRÖBEL 2020" im IKKP Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie - Kunsthaus Rehau - http://kunsthaus-rehau.de/IKKP_ie.htm - gezeigt!



Die Bildergalerie zeigt Fotos der Exponate der Ausstellung, Dr.in Bettina Reimers, Prof. Eugen Gomringer, Imre Györgyi, Fotos der Eröffnung in Rehau, die Medienberichte von Walter Titz (Kleine Zeitung), Michaela Reichart (Kronenzeitung) und aus der Rehauer Stadtzeitung.

Bericht von ALINA SAMONIG zur Ausstellung "FRÖBEL 2020" im ORF Radio Steiermark Kulturjournal, 9. 12. 2014

 

Er ist vor allem als Vater des Kindergartens bekannt - Friedrich Wilhelm Fröbel, der von 1782 bis 1852 lebte. Zeit seines Wirkens beschäftigte er sich mit frühkindlicher Entwicklung, gründete Ausbildungsstätten für Kindergartenpädagoginnen und entwickelte Spielmaterialien, die heute noch vielen bekannt sind, auch wenn ihre ursprüngliche Herkunft oft unerwähnt bleibt. Das Museum der Wahrnehmung gibt derzeit Einblick in großteils wissenschaftlich unbearbeitetes Archivmaterial aus der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin. 


Viele der gezeigten Ausstellungsstücke kommen einem sofort bekannt vor. Die kleinen Holzwürfel erinnern an Bauklötze, das gefaltete Papier an Origami-Kunst und die filigranen Lesezeichen aus gewebtem Papier hat man vielleicht selbst schon einmal verschenkt. Dass diese mittlerweile bekannten Alltagsgegenstände auf eine lange Geschichte zurückblicken, wird einem spätestens bei den kunstvollen Examen-Boxen bewusst. Sie stammen, ebenso wie gezeigten Flechtwerke, aus dem späten 19. bzw. dem frühen 20. Jahrhundert. Grundgedanke der Ausstellung ist unter anderem die Bedeutung von Fröbels damaligem Schaffen für die spätere Entwicklung in der modernen Kunst aufzuzeigen, wie Bettina Reimers, Archivleiterin in Berlin, erzählt: "Wir haben hier überwiegend Materialien ausgestellt, die in der Kindergärtnerinnenausbildung in der Fröbel-Tradition entstanden sind. An diesen Flechtarbeiten sieht man ganz hervorragend, wie stark die Elemente, die dort schon Verwendung gefunden haben, gerade in der Flechttechnik, später in der modernen Kunst aufgegriffen wurden."

 

Neben den Flechtwerken gilt dies auch für die gezeigten Spielgaben, wie Fröbel seine Spielmaterialien selbst bezeichnete. "Auch dort sieht man, dass beispielsweise der Würfel als ein Element von Fröbel in der dritten Spielgabe, der zu allen Seiten gleichmäßig geteilte Würfel, aus dem dann acht kleine Würfel entstehen, ein Element ist, mit dem man ganz großartige, bezaubernde Formen entwickeln kann, die später auch Eingang gefunden haben in der modernen Kunst bei Klee, bei Braque, bei ähnlichen", so Reimers weiter.

 

Fröbels Entwicklungen, die zum Großteil durch auffallende Exaktheit und deutliche geometrische Strukturen gekennzeichnet sind, wirken aber nicht nur in der Kunst nach, erläutert Bettina Reimers: "Fröbel wirkt heute vielfach nach, uns ist es oftmals gar nicht bewusst. Die Elemente, die zu Fröbel gehören, waren einerseits als erste Spielgabe so kleine bunte Stoffbälle, die man für Kinder gehäkelt, dann gefüllt und mit einem kleinen Faden versehen hat. Diese Elemente haben wir heute zum Beispiel fast an jedem Kinderwagen, nämlich diese Schnur, die im Kinderwagen hängt, wo bunte Elemente sind, an denen sich das kindliche Auge erstmal irgendwie ausrichten kann - also das sind so die ersten Wahrnehmungsversuche. Darüberhinaus kennen wir diese Fröbel-Elemente in den verschiedensten Steckspielen oder in den Baukästen, die wir haben. Also diese Holz-Baukästen mit ihren vielfachen Unterteilungen zum Bauen von Häusern oder Bauernhöfen oder was auch immer, gehen in der Grundstruktur im Grunde genommen auf diesen Würfel von Fröbel zurück."

 


BETTINA REIMERS


Ein unerforschter Schatz – Verborgenes Archivmaterial auf Ausstellungsreise

Friedrich Wilhelm Fröbel und seine Spielgabe

 

Das in dieser Ausstellung erstmals öffentlich zu sehende Archivmaterial zu Fröbel ist bis dato weitgehend unerforscht. Es stammt zum einen aus dem Nachlass von Friedrich Wilhelm Fröbel (1782–1852) und zum anderen aus dem Schriftgutbestand des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes und ist im Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung verwahrt. Fröbel dürfte einer breiteren Öffentlichkeit als der „Vater des Kindergartens“ bekannt sein.

 

In seiner 1826 veröffentlichten Hauptschrift mit dem Titel „Die Menschenerziehung, die Erziehungs-, Unterrichts- und Lehrkunst, angestrebt in der allgemeinen deutschen Erziehungsanstalt zu Keilhau“ geht Friedrich Wilhelm Fröbel – entgegen der vorherrschenden Meinung seiner Zeitgenossen – davon aus, dass mit dem kindlichen Spielen ein entscheidender Schritt der Entwicklung vollzogen werde und dieser daher als sinnhaft gedeutet werden müsse. Die von ihm überlieferten theoretischen Äußerungen zum frühen Kindesalter sind jedoch sehr spärlich. Dies verwundert nicht, erschließt sich für Fröbel die Bedeutung und die Ursprünglichkeit des kindlichen Beschäftigungstriebes doch erst in der pädagogischen Praxis: So entwickelt er – wie er es selbst formuliert – „sinnenfälliges Material“ für die kindliche Beschäftigung. Nach der Gründung der „Anstalt zur Pflege des Beschäftigungstriebes der Kindheit und Jugend“ in Blankenburg in Thüringen wendet sich Fröbel 1837 in besonderer Weise dem kindlichen Spielen und dem Beschäftigungstrieb des Kleinkindes zu und entwickelt die sogenannten Spielgaben. Diese „vorzüglichen Bildungsmittel“ – einst aus Holz, heutzutage oftmals aus Plastik – sind vielen bekannt, doch ihre ursprüngliche Herkunft und ihre Geschichte, die auf das Engste mit dem Namen Fröbels verknüpft sind, bleiben unerwähnt.

 

Die ersten Spielgaben probieren Fröbel und sein Freund Johann Wilhelm Middendorf (1793–1853) gemeinsam mit Kindern aus – sein berühmtes Motto „Kommt, lasst uns unsern Kindern leben!“ wird anhand der Entwicklung der Spielgaben förmlich gelebt! Seine „Spieltheorie“ ist auf das grundlegende Wahrnehmen des Kindes mit möglichst vielen Sinnen gerichtet: So sollen Fühlen, Tasten, Hören, Sprechen und Singen angesprochen und zunehmend verschränkt werden. Als Medium zur Verbreitung seiner Ideen wählt Fröbel die Zeitschrift: Im Jahr 1838 erscheint der erste von ihm herausgegebene Band „Ein Sonntagsblatt für Gleichgesinnte“. Konzipiert ist die Zeitung, die bis 1840 erschien, für einen lebendigen Austausch zwischen Gleichgesinnten in Deutschland, in der Schweiz und in Nordamerika. Hier publiziert Fröbel die Grundzüge seiner Spieltheorie und erläutert die geeigneten Spielgaben für das Kind. Die jeweiligen Vorstufen und Skizzen zu diesen Spielgaben finden sich im Nachlass von Friedrich Fröbel. Beispielhaft wird eine dieser Skizzen zum Ball als zentralem Beschäftigungsmittel in der Ausstellung gezeigt.

 

Im gleichen Jahr wie die Zeitung – ab 1838 – werden die Spielgaben auf den Markt gebracht und erscheinen jeweils mit einem erläuternden Beiheft und lithographischen Blättern zum Gebrauch. Die erste Gabe, mit der sich ein Kind gemäß der Theorie Fröbels beschäftigen soll, ist ein Stoffball, die folgenden sind eine Kugel und ein Würfel aus Holz sowie die Walze, in der beide taktilen Eigenschaften zusammengeführt werden. Die dritte bis fünfte Gabe bestehen jeweils aus einem Würfel-Baukasten gleicher Größe mit unterschiedlich geteilten Würfeln.

 

Fröbel vertrat die Auffassung, dass alle Dinge, die Kindern zur Beschäftigung und zum Spielen gegeben werden, mit besonderer Sorgfalt und „Bewußtsein“ bezogen auf Material und Form ausgesucht werden sollten. Für Fröbel sind Ball, Kugel und Würfel die vollkommensten Spielsachen für ein kleines Kind und gelten als Urmittel seiner geistigen Bildung, weil diese Gegenstände primäre Grunderfahrungen in der kindlichen Lebenswelt ermöglichen. Der Ball ist nach Fröbel die angenehmste und zugleich vollkommenste Form und vielseitig anwendbar. Mit Hilfe des Balls in seiner Beweglichkeit kann das Kind geistige Erfahrungen wie Haben und Gehabthaben, Verbindung und Trennung, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im wiederholten Spiel sammeln. Das Kind ist der Schöpfer des Spiels und lebt zunächst in dieser Welt. Dem Erwachsenen, der das Kind bilden will, kommt nach Fröbels Auffassung die Aufgabe zu, das Spiel des Kindes zu bewahren und ihm dabei – im Sinne eines „Spielführers“ – zu der Erfahrung zu verhelfen, die Handlung im Spiel vollenden zu können. Aus diesem Zusammenspiel beider, dem Kind als Spielenden und dem „Erwachsenen als Spielführer“, erwächst eine positive und produktive Erfahrung für beide – also von Klein und Groß – in einem Ganzen. Das Spiel ist für Fröbel aber nicht nur ein Laufenlassen der Phantasie, vielmehr ist es gekennzeichnet durch Gesetz und Ordnung in sich selbst. Die strukturellen Prinzipien werden im Besonderen in den Spielgaben drei bis fünf deutlich, die mathematische Strukturen darstellen. So besteht die dritte Gabe aus einem Würfel, der durch je einen Schnitt in jeder Raumrichtung geteilt werden kann, sodass acht kleinere Würfel vorliegen. Diese bilden in ihren einzelnen Formen das Ganze ab. Durch die fortgesetzte Beschäftigung mit der dritten Gabe entwickelte Fröbel 100 Darstellungen Lebensformen, 71 Darstellungen Schönheitsformen und 22 Darstellungen Erkenntnisformen. Dieser „ausgeführten dritten Gabe“ widmet Fröbel eine eigene Abhandlung, die nach langer Beschäftigung schließlich 1844 erscheint. Vorgestellt werden darin alle zentral-symmetrischen Formen der in der Fläche ausgebreiteten acht Würfel als 71 Schönheitsformen, sowie spezielle Reimlieder zu jeder einzelnen Form. Darüber hinaus gibt der Pädagoge Anleitungen für Mütter, Pflegerinnen und Erzieherinnen zum richtigen Gebrauch der dritten Gabe, die so zum zentralen Element der Kindergärtnerinnenausbildung wird.

 

Als weitere Elemente der Spielpraxis bei Fröbel gelten Lieder, Geschichten und die Musik als Spiegelung des Lebens. Die mit Zeichnungen von Friedrich Unger (1811–1858) versehenen „Mutter- und Kose-Lieder – Dichtung und Bilder zur edlen Pflege des Kindheitlebens“ erscheinen im Jahr 1844: Sie erweitern die Spielgaben entscheidend, weil nach Fröbels Auffassung jegliche Beschäftigung des Kindes und mit dem Kind von deutenden Worten begleitet bzw. unterstützt werden soll, damit neben der gefühlten Gemeinsamkeit das gemeinsame Tun bewusst durch die Sprache und die Musik erlebt werden kann. Ergänzt wird das freie Spiel zusätzlich durch praktische Beschäftigungen wie Flechten, Winden, Schnitzen und Holzspalten, die von Fröbel bereits in der Knabenerziehungsanstalt in Keilhau praktiziert und im Programm der Volkserziehungsanstalt in Helba aus dem Jahr 1829 dargelegt wurden. Diese praktischen Beschäftigungen zielen auf einfache volkstümliche Techniken der Wirtschafts- und Erwachsenenwelt.

 

Parallel zur Spieltheorie entwickelte sich zunehmend die Idee zur Gründung eines Kindergartens als „einer allgemeinen Anstalt zur allseitigen Pflege des Kinderlebens bis zum schulfähigen Alter“. Die überlieferten öffentlichkeitswirksamen Aufrufe und Anzeigen in Zeitungen sowie die erhaltenen Aktienzeichnungsscheine und dergleichen mehr belegen den Überzeugungswillen und auch das wirtschaftliche Geschick Fröbels, das nicht nur zur Verbreitung der Idee, sondern schließlich auch zur raschen Umsetzung führte. Der erste Kindergarten wurde 1840 im Thüringischen Blankenburg bei Rudolstadt gegründet. Es war „ein wahrer Garten von Kindern …, denn sie sind fröhlich, heiter, frisch und kräftig wie die Blumen im Garten, aber auch lieblich und mild wie Reseda und Veilchen“. Aber für die adäquate Pflege und Erziehung in der frühen Kindheit mussten ebenfalls „Gärtnerinnen und Gärtner“ gebildet werden. Naheliegend war es daher, dem Kindergarten gleich eine Ausbildungseinrichtung für Kinderpflegerinnen, Erzieherinnen und Erzieher anzugliedern. So wurde der Kindergarten zu einer Übungseinrichtung und Musteranstalt – also zum Multiplikator einer neuen Form der Kindererziehung und Erzieherausbildung. In den regelmäßig erscheinenden Berichten und in der bereits erwähnten Zeitschrift wurde Rechenschaft über die wirtschaftliche Entwicklung des Vorhabens und die inhaltliche Profilierung abgelegt. Bemerkenswert sind erstere insbesondere, da sie die Unterstützerinnen namentlich ausweisen. Die Listen lesen sich wie das Who is who vornehmlich der Gattinnen des in der Region ansässigen Adels, des höheren Verwaltungsbeamtentums und des kulturell interessierten Bürgertums.

 

Auf Initiative eines interessierten – überwiegend bürgerlichen – Publikums gründeten sich zunächst der „Allgemeine Fröbel-Verein“ in Weimar als auch die Fröbelvereine in Berlin und anderenorts. Die erstarkende Fröbelbewegung nach seinem Tod hatte entscheidenden Anteil an der Gründung des Deutschen Fröbel-Verbands im Jahr 1873, zu dem sich die zahlreichen örtlichen Vereine und Initiativen zusammenschlossen. Als allgemeines und verbindendes Ziel sollte ein breites Bündnis für die neuen Ideen in der Kleinkinderziehung entstehen. Zwei Drittel der Teilnehmerinnen der Gründungsversammlung setzten sich aus Frauen zusammen; in den geschäftsführenden Vorstand und zum Vorsitzenden wurden jedoch ausschließlich Männer gewählt. Das änderte sich erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Der Verband trug maßgeblich zur Publizierung und Institutionalisierung der pädagogischen Anliegen bei, hierbei stand die Ausbildung der Kindergärtnerinnen besonders im Fokus. Einige Ergebnisse der praktischen Ausbildung, die die Anforderungen an die künftigen Erzieherinnen erahnen lassen, sind im Bestand des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes, der Nachfolgegründung des Verbandes nach der Auflösung des Vereins durch die Nationalsozialisten im Jahr 1938, überliefert.

 

Diese teilweise kunstvoll gestalteten Leporellos, Musterbücher und Einzelblätter von Teilnehmerinnen der Ausbildungskurse datieren auf das späte 19. Jahrhundert bzw. auf die Jahre 1905 bis 1911. Sie entstanden vermutlich im Pestalozzi-Fröbel-Haus, einer von Fröbels Großnichte Henriette Schrader-Breymann (1827–1899) geleiteten Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen in Berlin-Schöneberg. Die Arbeiten der jungen Frauen bestechen durch ihre Ästhetik ebenso wie durch die exakte Umsetzung und Orientierung an den Vorlagen Fröbels. Bemerkenswert sind insbesondere die kunstvollen „Faltschulen“ mit zahlreichen gefalteten Schönheitsformen und Ausschneideformen aus weißem Papier, die auf der Auseinandersetzung mit der dritten Spielgabe basieren. Im Gegensatz zur Spielgabe – dem Würfel – ist hier nicht das taktile, sondern die visuelle Wahrnehmung in den Vordergrund getreten. Hier tritt uns nicht mehr das Dreidimensionale, sondern die Abstraktion im Zweidimensionalen entgegen, eine Abstraktionsleistung, die bei älteren Kindern angeregt werden soll. Einen ebensolchen Zweck verfolgen die „Verschnürschulen“ aus einfarbigen bzw. zweifarbigen Papierschnüren. Die in der Ausstellung gezeigten, ebenfalls mit dem Material Papier hergestellten „Flechtschulen“ sind in den frühen Exemplaren zweifarbig (weiß/blau oder weiß/schwarz) gehalten. Eine künstlerische Abwandlung erfahren sie in den zwei- und mehrfarbigen Buchzeichen. In der Exaktheit der zugrunde liegenden geometrischen Strukturen und in ihrer Elaboriertheit erinnern diese Arbeiten an sorgfältig ausgeführte Kunstwerke zeitnaherer Epochen.

 

 

 

EUGEN GOMRINGER


Das Spielmaterial von Friedrich Fröbel – eine frühe Vorwegnahme des Experimentierens mit konstruktiven Formen

 

Man muss darauf gestoßen werden, um bestimmte Dinge und Verhältnisse plötzlich in einem ungewohnten, anderen Licht zu sehen, damit eingelebte Seiten umgeblättert werden können. So geschah es mir in Graz bei der Besichtigung von Spielmaterial von Friedrich Fröbel, kurz: dem Erfinder des Kindergartens. Vielleicht lässt sich die Überraschung durch die altersmäßige Distanz zur Kindergartenpraxis verzeihen, doch was mir begegnete – zum ersten Mal überhaupt –, sprach gesichertes kunstgeschichtliches Wissen an im Bereich der konstruktiven Kunst und der konstruktiven Konzepte. In diesem Bereich besteht, bestätigt durch Unmengen von Literatur, Übereinstimmung über empirische Abläufe und historische Erkenntnisse dessen, was in der Kunst durch berühmte Künstler von ungefähr 1890 bis 1920 Weltwendenes erfunden und geschaffen wurde. Das Ergebnis dieses Zeitabschnitts liest sich wie oft wiederholte Kapitelüberschriften, nämlich „Demontage der Wirklichkeit“ und „Befreiung vom Gegenstand“.1

 

Was es nun zu beobachten gab im Museum der Wahrnehmung MUWA in Graz, waren mathematische Grundkörper in Maßen, die nicht nur gut ins Auge fielen, sondern sich noch besser oder gleichzeitig, wie mir schien, ergreifen lassen wollten. Diese Grundformen, die man gewohnheitsmäßig einem Künstler des Konstruktivismus der 1920er-Jahre zugeordnet hätte, wiesen zurück auf das Jahr 1837, das als das Jahr des Beginns der Herstellung von Spielmaterial gilt, damals in Blankenburg, wohin Fröbel gleichzeitig auch übergesiedelt war. Das Jahr des Beginns steht fest. Es muss alle Adepten konstruktiver, konstruktivistischer Überzeugung in die Überraschung versetzen, die mir zuteil wurde, handelte es sich doch um eine Handhabung von Formen, deren stilistische Bewältigung erst Jahrzehnte später in der Kunst aktuell war. Und 1837 waren diese mathematischen Grundformen also bereits Spielformen. Anzunehmen ist, dass sich der Erfinder Fröbel schon etliche Jahre vor der Produktionsreife mit seinem Projekt befasst haben mochte, so dass eine zeitlich Divergenz von beinahe einem Jahrhundert resultieren könnte. Es gilt also wie in einem Wettbewerb zwei Entwicklungslinien in ihren beträchtlich divergierenden Zeitabläufen nachzugehen. Und vielleicht lässt sich einwenden, dass die beiden Linien gar nicht vergleichbar wären, stünde da nicht das fertige Produkt von 1837 wie eine Zielvorgabe vor Augen.

 

Wer Friedrich Fröbel war, ist Wissen, das am besten bei Pädagogen der Kindergartenerziehung und in ihren Archiven und Publikationen zu erforschen ist. Sehr gefallen hat mir als allgemeine Einführung die Schrift „Kindergarten“ von Margitta Rockstein, die dem Friedrich-Fröbel-Museum in Bad Blankenburg vorsteht. Ohne den glücklichen erfolgreichen Ausgang mit der Gründung des Kindergartens – 1840 Gründungsveranstaltung des „Allgemeinen deutschen Kindergarten“ – würde sich der Lebensweg Fröbels vor allem als Leidensweg von 1782 bis 1852 darstellen. So aber stehen wir Ausstellungsbesucher vor den den Fachleuten in aller Welt bestbekannten Spiel- und Beschäftigungsmitteln, die Kleinkindern und Kindergartenkindern, in Reifegraden abgestuft, in die Hand gegeben werden können. Es sind die sogenannten „Abgaben“ von Stufe 1 bis Stufe 6 in dreidimensionalen Körpern. Ihnen folgen dann flächenartige Materialien – und alle Teile und Formen aus geometrischen Grundformen, ganz selbstverständlich.

 

Hat Fröbel die konstruktiven Formen des Spielmaterials allein aus sich und seiner Sphärephilosophie heraus entwickelt? Hatte er Vorbilder? Diese und andere Fragen, die das Interesse wissenschaftlicher Untersuchung sein dürften, können angesichts des feststehenden Resultats vorerst zurückgestellt werden. Was aber teilte sich mit von Fröbels konstruktiven Formen in all den Jahrzehnten bis zur regelrechten Demontage der Wirklichkeit und der Übernahme der kubistischen Gestaltungsprinzipien? Es ist angebracht, eine weitere Befreiungsbewegung des 19. Jahrhunderts zu erwähnen, deren beste Jahre sich den Fröbel‘schen Erfinderjahren anschlossen. Es sind die bewegenden Jahrzehnte der Präraffaeliten in England, deren pragmatischer Zweig die Arts- and-Crafts-Bewegung war, der kritischen Texte von John Ruskin und William Morris. Als Erbe der reichen künstlerischen und theoretischen Hinterlassenschaft dieser Bewegungen ist die deutsche Reformbewegung mit den Initiatoren Hermann Muthesius und Henry van de Velde und der Gründung des Deutschen Werkbunds 1907 zu sehen. Doch weder im Präraffaelismus, in Arts and Crafts und auch nicht im deutschen Jugendstil ist eine Beschäftigungsempfehlung für Kinder mit konstruktiven Formen festzustellen. Dass die Quadratfigur als Dekoration in Anspruch genommen wurde, kann nicht in Übereinstimmung mit der ganz verselbstständigten Spielfigur von Fröbel gesehen werden, abgesehen vom zeitlichen Abstand. Hingegen gewann durch den Ingenieurbau Mitte des 19. Jahrhunderts – Paxtons Kristallpalast 1851 in London und Eiffels Turm von 1985-1889 in Paris –, das heißt durch Skelettbauweise, die konstruktive Form an Ansehen.

 

Dass der Fröbel’sche Konstruktivismus für die maßgebliche Kunstbetrachtung öffentlich einfach nicht vorhanden zu sein schien oder als Nebensächlichkeit lediglich im Kindergartensektor zu bemerken war, bis seine Wirklichkeit jüngst im Museum der Wahrnehmung in Graz Schuppen von den Augen fallen ließ, ist Grund genug, sich des umfassenden Themas des „Geometrismus als fundamentale Erfahrung“2 erneut anzunehmen. Tatsächlich war der Geometrismus als Stilmerkmal zwar immer vorhanden, doch trat er nicht zu allen Zeiten dominant in Erscheinung. Er wurde benützt in allen Kulturepochen als normative Ästhetik, auf die bisweilen zurückzugreifen war. Aber wer wäre in Graz auf die konstruktiven Spielformen so aufmerksam geworden, wenn nicht die Kreise, die heute wieder – seit Jahren – ihren Denk- und Fühlbereich von der Empirie bis zur Metaphysik der konstruktiv-konkreten Kunst verdanken? Setzt man die 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts in Europa als Beginn der Entwicklung der konkreten Kunst, ist die theoretische Aufarbeitung und Förderung der strengen Kunst, wie sie durch die wichtige Galerie des Eaux Vives in Zürich 1944 und 1945 gehandhabt wurde, von entscheidender Bedeutung. Die Arbeit dieser Galerie diente der Unterstützung und der Bestätigung der Geometrie als Motivation und archetypischer Urgrund. Sie publizierte eine Folge von Bulletins mit dem Generalnenner „abstrakt konkret“. Einer ihrer Autoren bezog sich mit einem Aufsatz auf die nicht unbekannte, aber doch wohl lange vergessene Belehrung des Sokrates im Philebos an Protarchos in der Sache der Schönheit, die sich zur klassischen Hommage der geometrischen Mittel aufschwingt.


Sokrates:

Allerdings ist das, was ich meine, nicht sogleich klar; man muss es in der Tat zu erklären versuchen. Als Schönheit von Formen nämlich suche ich jetzt nicht das zu bezeichnen, was die Menge dafür nehmen dürfte, also zum Beispiel die von lebenden Wesen oder gewissen Gemälden; Sondern ich verstehe darunter – das ist mein Satz – so ein Gerades und Kreisförmiges und von diesen aus die Flächen und die Körper, wie sie durch Drehinstrumente entstehen und durch Lineal und Winkelmaß, wenn du mich verstehst. Denn von diesen sage ich, sie seien nicht in Beziehung auf etwas schön wie andere Dinge, sondern sie seien immer an und für sich ihrer Natur nach schön.3

 

Was durch Platon-Sokrates als ewige Gültigkeit angesprochen wird, die Schönheit geometrischer Formen, stand allen Kulturzentren von jeher unterschiedlich begehrenswert zur Verfügung. Durch die fortschreitende Technisierung jedoch, was schon Gegenstand der Streitgespräche des jungen Werkbunds war, mag das tatsächliche Vorhandensein einer sich vererbenden Gebrauchskultur auf der Grundlage schöner, nützlicher Grundformen weitgehend unbeachtet oder unterbewertet geblieben sein. Dass sich Kunst seit 1837 im Fröbel’schen Sinne nützlich macht und dass diese kulturelle Konstante neben uns lebendige Wirklichkeit bleibt, dies zu bemerken, zu beachten und einzubeziehen, ist eine nicht zu vernachlässigende Aufgabe.

 

Schaut man sich also, angeregt durch die „Entdeckung“ Fröbels als Konstante in der Kindergartenarbeit, im Spielwarensektor der Gegenwart um und forscht nach einem Verständnis für die frühe Bekanntschaft mit Geometrie und Mathematik, wird man nur in einem schmalen Sachbereich fündig. Auch wenn ein internationaler Kreis von Jugendliteratur berücksichtigt wird, bleibt das Formenspiel des Konstruktivismus Mangelware oder Nebensächlichkeit. Ein Nachfolgebeispiel zu den Spielgaben Fröbels ist nicht in Sicht. Gelingt es dennoch, eine Anleitung für das Spielen und Begreifen von einfachen geometrischen Formen einmal in die Welt zu setzen, gewinnt eine solche Publikation unvermutet Seltenheitswert. Ein solcher Versuch darf in dem Buch „gucken“ des bekannten Designers und Malers Anton Stankowski gesehen werden. Er verstand es, mit einem Band von Schautafeln die Aktivität von Quadraten einfach und anregend darzustellen. Was lebhaft und farbenbunt Seite um Seite geboten wird, hat nicht nur ästhetischen Reiz, es wirkt ebenso durch sozialen Anspruch. Das Spiel mit den Quadraten geschieht gruppentheoretisch und zeigt dem Einzelnen – dem farbigen Quadrätchen – seine Stellung in der Gruppe. Das Buch hatte schon 1977 viel Beachtung gefunden, sodass es später mit zusätzlicher, gleichrangiger Bedeutung auch auf Englisch erschienen ist, als „look! a book for children“. Die Texte, welche das Geschehen der bunten Quadratwelt begleiten – sprachliche Begleitung ist auch bei Fröbel wichtig –, stammen von Eugen Gomringer. Sie sprechen in knapper konkreter Sprache Begleitpersonen an: „aus zwei wird drei oder eins. Eine neue figur in der mitte von gemischter farbe. Das ganze ein stern.“ Fröbel hätte vermutlich sein Vergnügen an diesem „gucken“ gehabt.

 

1 Zwei Kapitelüberschriften in Willy Rotzler: Konstruktive Konzepte. Zürich 1977

2 Kapitelüberschrift in Willy Rotzler: Konstruktive Konzepte. Zürich 1977

3 Platon: Sämtliche Werke. Band III. Darmstadt 2004