HANS JÖRG GLATTFELDER           "SEH-ÜBUNG" / "VISUAL EXERCICE"

 

 

 

 

 

 

Anna Mascher-Wondrak

Eröffnungsrede zur Ausstellung Hans Jörg Glattfelder "Seh-Übung"

 

HANS JÖRG GLATTFELDER

"SEH-ÜBUNG"


HANS JÖRG GLATTFELDER beschreibt seine Intention zur Ausstellung im Museum der Wahrnehmung MUWA: "Meine Ausstellung im MUWA Graz möchte einigen Fragen nachgehen, die mich seit langer Zeit beschäftigen: 'Was sehe ich eigentlich beim Sehen?' Genauer: 'Ist mir beim Sehen bewusst, dass und wie ich sehe?' 'Sehe ich nur, was ich schon weiß?' Aus diesem Grund ist ein großer Teil der ausgestellten Werke, vor allem die Installationen, zu verstehen als eine Art Turngeräte, an denen man die genannten Fragen exerzieren kann."

 

GLATTFELDER bezeichnet sich als konstruktivistischen Maler und Autor, geht jedoch einen eigenständigen Weg über die orthodox-konkrete Linie dieser Kunstrichtung hinaus. Er anerkennt deren Grundprinzipien, sein Umgang mit ihnen ist jedoch ein diskursiver, ein befragender, ein immer wieder durch syntaktische Veränderungen testender, ein neue wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigender, also ein für Unvorhergesehenes offener. GLATTFELDER hält dies für unabdingbar für die Lebendigkeit der gegenwärtigen Entwicklung der konstruktiv-konkreten Kunst, deren Bezug zum Leben unaufhörlich kritisch durchdacht werden müsse. Dinge rational durchzudenken und dann entsprechend zu handeln, ist seine Strategie, er verwehrt sich gegen bloße Attitüden und gegen den Dekorationscharakter: "Wahrheit muss auch dabei sein! Starke Kunst hat einen appellativen Charakter."

 

1983 prägte GLATTFELDER den Begriff des Meta-Rationalismus und der meta-rationalen Kunst, in der mithilfe der Kunst über Bedingungen für das Entstehen und Bestehen von Rationalität reflektiert wird. Die Aufgabe dieser Kunst bestehe darin, "der Bildstruktur die Würde der Fragwürdigkeit zu geben" und darüberhinaus die Kunst im methodischen Ansatz gegenüber der Wissenschaft dialogfähiger zu machen.

 

Der Künstler zeigt in der Ausstellung Werke aus mehreren Schaffensperioden bis hin zu neuen Arbeiten von 2014, so beispielsweise aus der Serie "Permutationen", die nicht dem Selbstzweck dienen, sondern eine syntaktische Funktion im Sehprozess haben: Einzelne Konstellationen verschiedener Farb- und Größenvarianten können einzeln fokussiert, ins Bewusstsein gehoben werden, während die übrigen Kombinationen in den Wahrnehmungshintergrund treten. Prozesshaft werden die visuellen Umschichtungen von den BetrachterInnen vorgenommen und dienen der Erweiterung des visuellen Bewusstseins. Voraussetzung ist das Einlassen auf diese visuelle Wahrnehmungserfahrung, so GLATTFELDER, denn: "Wer nicht mitspielt, hat nichts von der Sache."


Eva Fürstner


 

HANS JÖRG GLATTFELDER

"VISUAL EXERCICE"


HANS JÖRG GLATTFELDER describes his intention of the exhibition in the Museum of Perception: "My exhibition in the MUWA Graz deals with issues I'm thinking about for a long time: 'What do I actually see while seeing?' More precisely: 'In the process of seeing, am I conscious, that and how I see?' 'Do I just see, what I already know?' For this reason the main part of the exhibited works, especially the installations, is conceived like gymnastic apparatuses where all these questions can be practiced."


GLATTFELDER calls himself a constructive painter and author but he works in an independant way passing the limits of orthodoxe concrete wing. He accepts their main principles but deals with them in a manner which is discursive, investigative, testing through continuous syntactical changes, respecting new scientifique knowledges and open for something unforseen. So for GLATTFELDER the liveliness is absolutely important for the actual development of constructive-concrete art whose reference to life must be reflected critically perpetually. His strategy is to think about things in a rational way and then act accordingly, he refuses mere attitudes and the decorative nature: “There has to be truth involved! Strong art has a compelling character.”


In 1983 GLATTFELDER created the term of meta-rationalismn and meta-rational art where reflection about conditions for inception and persistence of rationality is possible via art. The task of this art consists of “lending the dignity of questionableness to the pictorial structure” and to make art’s methodic approach more interoperable with science.


The artist exhibits works of several periods till new works of 2014,

among them some examples out of the series "permutations" which do not end in themselves, but have a syntactical function within the process of seeing: particular constellations of different variations of colour and size can be focussed separately, be made aware, while other combinations fade into the background of perception. Like in a process the visual shifting is made by the beholders - provided that they get into this visual experience of perception, says GLATTFELDER, cause: "Who does not join the game, does not get anything out of it."


Eröffnungsrede von ANNA MASCHER-WONDRAK zur Ausstellung von HANS JÖRG GLATTFELDER


Sich auf das Sehen konzentrieren, wirklich hinschauen!


Lieber Hans Jörg,

liebe Eva, liebe Frau Fürstner und Frau Richter, lieber Herr Wolf,

verehrte Damen und Herren,


ich freue mich sehr, Sie heute in die Ausstellung und die Arbeiten von Hans Jörg Glattfelder einführen zu dürfen. Bevor ich damit beginne, kurz ein paar Sätze zu meiner Person bzw. zu der Stiftung, für die ich arbeite und in deren Namen ich auch heute Abend hier in Graz bin – denn die Stiftung bzw. das Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt und Hans Jörg Glattfelder sind schon lange verbunden. 1999 hatte Glattfelder dort eine große Einzelausstellung und war auch immer wieder in Museumspräsentationen vertreten, zuletzt 2014 in der Gruppenausstellung „eckig, rund und bunt“, zu der es auch ein sehr schönes Künstlergespräch gab.


Die Stiftung für Konkrete Kunst und Design Ingolstadt wurde im Jahr 2007 von dem Ehepaar Ludwig und Ingeborg Wilding sowie von der Stadt Ingolstadt gegründet. Aufgabe der Stiftung ist die Übernahme, Pflege und Bewahrung von Vor- und Nachlässen bedeutender konkreter Künstler und Designer. Mittlerweile umfasst unser Stiftungsbestand Arbeiten von 15 Künstlerinnen und Künstlern, unter anderem von Hartmut Böhm, Rolf Glasmeier, Vera Molnar und Ludwig Wilding. Unser Ziel ist es dabei nicht nur zu sammeln, zu archivieren und zu forschen, sondern auch aktiv – u. a. durch Ausstellungsprojekte – dazu beizutragen, dass das Gedankengut der konkreten Künstler weitergeführt und in der Öffentlichkeit vermittelt wird.


Soviel dazu und nun komme ich auch schon zum eigentlichen Anlass meiner Einführung.


Wenn Sie durch die Straßen gehen, dann sehen Sie Häuser, Bäume, Autos, andere Menschen, Kunst – und all das verortet im Raum, in vorgegebenen Strukturen. Doch wie funktioniert das eigentlich: das Sehen? Natürlich, in einem ersten Schritt ist Sehen ein chemisch-physikalischer Prozess. Etwa 80 % unserer Informationen bekommen wir über das Auge, wir können etwa 150 Farbtöne unterscheiden und diese zu knapp einer halben Million Farbempfindungen kombinieren. Doch: Sind Sehen und Wahrnehmen das Gleiche?


Diese Ausstellung hier trägt den Titel „Seh-Übung“ und ist genau als solche auch zu verstehen. Die ausgestellten Arbeiten zeigen einen Querschnitt von den späten 1980er-Jahren bis heute – einen Querschnitt aus dem Werk von Hans Jörg Glattfelder, der zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern der konstruktiv-konkreten Richtung gehört. Es sind hier in der Ausstellung natürlich nicht aus allen Werkgruppen Arbeiten zu sehen, dazu sind es zu viele. Generell ist Glattfelders Arbeit beständig geprägt von geometrischen, meist farbigen Formen – und beständig geprägt von Wandel, Bewegung und Veränderung. Kann eine Linie gleichzeitig gerade und krumm sein? Ja, sie kann! Und das werden Sie heute Abend auch noch selbst erfahren können, denn die Einbeziehung des Betrachters ist ein wichtiger Bestandteil von Glattfelders Kunst.


Hans Jörg Glattfelder wurde 1939 in Zürich geboren und hat dort an der Universität zuerst Jura studiert, danach besuchte er auch Vorlesungen in Kunstgeschichte und Archäologie. In dieser Zeit kam bei ihm bereits ein reges Interesse an wissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen auf. Anfang der 1960er-Jahre zog er dann nach Italien – erst Sizilien, dann Rom und ließ sich 1963 schließlich in Florenz nieder, wo die ersten, streng strukturierten Arbeiten entstanden. Dort hatte Glattfelder auch Kontakt zur Kunstszene, kam mit Strömungen wie der Op-Art und kinetischer Kunst in Berührung und entwickelte beständig seine eigene konkrete Formensprache.


Zu dieser Zeit setzte er sich intensiv mit räumlichen Strukturen auseinander – erste Reliefs entstehen, sie sind die Basis für die industriell produzierten dreidimensionalen Pyramidenreliefs. Diese Pyramidenreliefs – über 700 hat Glattfelder hiervon realisiert – sind aus vielen kleinen Pyramiden zusammengesetzt und haben auf den vier Seiten unterschiedliche Farben, so dass man je nach Standpunkt im Raum eine völlig unterschiedliche Wahrnehmung erfährt. Anfang der 1970er wendete er sich vermehrt der Malerei zu, kehrt – zumindest in der Technik, von der Dreidimensionalität zurück in die Zweidimensionalität. "Zumindest in der Technik" sage ich deshalb, weil die zentrale Fragestellung dabei das Hinterfragen des Verhältnisses von Raum und Fläche ist und bleibt. Wie kann man eine Fläche in den Raum übersetzen und wie zieht man den Betrachter mit ein?


Glattfelder steht in seiner streng geometrischen Arbeitsweise natürlich in der Tradition der Zürcher Konkreten um Max Bill, allerdings geht er in seinen Vorstellungen von Raum über diese hinaus – wie der Kunsttheoretiker Hans Heinz Holz sagt, trat mit Glattfelder „die konstruktivistische Kunst in eine sichtbar neue Phase ein“. Wie macht sich das bemerkbar? Hier kommen wir wieder zur Behandlung von Raum und dabei spielt die in den späten 1970er-Jahren beginnende Serie der nicht-euklidischen Metaphern eine wichtige Rolle. Bis zu dieser Zeit hat sich die konkrete Kunst stets auf die Gesetzmäßigkeiten der euklidischen Geometrie gestützt. Kurz zur Erklärung: Als einen „euklidischen Raum“ bezeichnet man in der Mathematik vereinfacht gesagt den uns umgebenden physikalischen Raum. Dieser wird in der Regel von rechten Winkeln strukturiert und hat diese als Bezugsystem, was ja in der konkreten Kunst eine wichtige Rolle spielt. Die Mathematik hatte sich aber weiterentwickelt, es entstanden Konzepte, z. B. eines hyperbolischen Raums: Wenn man nun diese vorgegebene Struktur aufgibt, diese Struktur basierend auf dem rechten Winkel, dann entstehen „nicht-euklidische“ Räume und Strukturen.


Glattfelder hat sich in dieser Zeit intensiv mit wissenschaftlichen Raumdefinitionen und verschiedenen Theorien zur nichteuklidischen Geometrie beschäftigt. Er ging nun über die Grenzen des Raums hinaus und setzte sich als einer der Ersten damit auseinander, diese komplexen Raumvorstellungen der modernen Physik auf die konstruktive Kunst zu übertragen. Nun heißen die Arbeiten aber „nicht-euklidische Metaphern“. Auch diese Begrifflichkeit der „Metapher“ möchte ich kurz erläutern. Trotz seiner intensiven Beschäftigungen mit mathematischen Fragestellungen sieht sich Glattfelder keineswegs als Mathematiker, sondern absolut als Künstler. Dieses Selbstverständnis kommt durch das Wort „Metapher“ als Abgrenzung vom künstlerischen Raum (Metapher) und naturwissenschaftlich-mathematischen Modellen zustande. Seine Arbeiten sind also nicht dazu gedacht, lediglich eine mathematische Fragestellung zu visualisieren. Ich zitiere den Künstler: „Ich bin ja Maler und kein Mathematiker. Ich kann von mathematischen Aspekten lernen, kann mir Anregungen holen, aber letztlich werde ich versuchen, den Raum zu gestalten, nach Grundsätzen der künstlerischen Tradition, nach Rhythmus, nach Dimension, nach formalen Entscheidungen. Die Formen, die ich erfinde, haben eine Beziehung, sie weisen auf etwas hin, das ich konkret eben nicht darstellen kann.“


Hier ist ein weiterer, für Hans Jörg Glattfelder wichtiger Punkt angesprochen, nämlich der Bezug der Dinge zueinander, also ihr Sachverhalt, was etwas Konkretes ist, dabei aber einem ständigen Wandel unterworfen ist. Glattfelder sagt dazu: „Das Konkrete ist unentwegt in Wandlung begriffen, wobei es gewisse Eigenschaften verliert und andere ansetzt, ohne aber seine Identität zu verlieren. In den Wandlungen tritt die Identität erst in voller Bestimmtheit hervor.“ Die konkrete Kunst verweist für Glattfelder dabei nicht auf etwas Abwesendes, sondern stets auf das, was man direkt vor sich hat.

Wie schauen diese nicht-euklidischen Metaphern nun aus?

Meistens sind es viereckige, aber nicht rechtwinklige Leinwände, die durch Linien oder Farbfelder eingeteilt sind. Sie sind flach gemalt, erzeugen aber die Illusion eines dreidimensionalen Bildraums, eine perspektivische Verschiebung und dadurch den Eindruck einer Raumkrümmung.


Dies sehen Sie hier an dem Werk «Lineare Variation 7 x 7 vertikal» von 1991. Die Grundvorgabe ist ein hyperbolisches Netz, das auf eine zweidimensionale Fläche bzw. Leinwand abgebildet wird. Durch die lineare Ausführung des hyperbolischen Netzes scheint es sich zu krümmen.


Hans Jörg Glattfelder ist der Auffassung, dass es einige Fragestellungen in der konkreten Kunst gibt, die in einem engen Diskurs mit unserem täglichen Leben stehen. Dabei hinterfragt er immer wieder auch seine eigene Kunst und ihren Bezug zum Leben. Hierbei hat der Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks einen hohen Stellenwert, seine Form, die auf keinen Fall in bloßer Dekoration verhaftet bleiben darf und soll.

Auch, wie bereits angesprochen, ist der Wissenschaftsbezug eine zentrale Komponente. 1983 formulierte Glattfelder seine Aufforderung zu einer interdisziplinären Kommunikation zwischen Wissenschaft und Kunst und prägte hierbei den Begriff des Meta-Rationalismus. Glattfelder versteht darunter eine bildnerische Sprache, in welcher mit Hilfe von Kunst Rationalität gleichzeitig in Frage gestellt und thematisiert wird.

Betrachten wir nun einmal die Arbeit «Rechtwindschief 1» von 1987. Sie sehen hier ein weißes und ein schwarzes Gitternetz auf farbigem Grund, das schräg ineinander kippt. Und nun sind wieder Sie als Betrachter gefordert. Das Bild kippt in der Mitte, und je nachdem, ob Sie Ihre Aufmerksamkeit nun auf das weiße oder das schwarze Raster richten, erfahren Sie eine andere Dynamik. Doch auch wenn Ihr Fokus z. B. auf den weißen Linien liegt, nehmen Sie die schwarzen simultan weiterhin wahr, denn die Wahrnehmung des Betrachters ist vor diesen Arbeiten immer ambivalent: Das Liniennetz suggeriert eine gekrümmte Fläche, aus der bestimmte Farbbereiche hervorzutreten scheinen, andere hingegen optisch zurückweichen – gleichzeitig bleibt aber die zweidimensionale Materialität der Bildfläche offensichtlich.


Die Herausforderung besteht für Sie, verehrte Damen und Herren, nun darin, nicht nur die Formen zu erkennen, sondern sie vor dem Hintergrund Ihres eigenen Bildgedächtnisses und Erkenntnisstandes auch zu reflektieren. Dadurch entsteht eine Bewegung – essentiell für Glattfelder: es geht um diese Bewegung, den Weg, den das Denken macht.


Unter dem Überbegriff der „nicht-euklidischen Metaphern“ entwickelte Hans Jörg Glattfelder auch die „nicht-euklidischen Metaphern als Permutation“. Auch hier wieder eine kurze Erläuterung: Basis dieser Permutationen bildet das sogenannte magische Quadrat – eines der bekanntesten dürfte das magische Quadrat in dem Stich „Melancholia I“ (1514) von Albrecht Dürer sein, bestehend aus 16 Quadraten. Heute im 21. Jahrhundert, kennt man diese Zahlenreihungen auch als Sudoku. Das heißt, in jeder Reihe darf eine Zahl nur einmal vorkommen und die Summe aller Zeilen, Spalten und die Quersumme ist immer die gleiche. Magische Quadrate gibt es in verschiedenen Größen, eine Aufteilung von 16 Feldern hat sich als die interessanteste noch übersichtliche Ordnung erwiesen.

Statt Zahlen verwendet Glattfelder verschiedene Farbkombinationen. „Nicht-euklidische Metaphern als Permutation“ sind auch heute hier zu sehen und greifen auch wieder Fragen der Ausstellung auf: Was sehe ich beim Sehen? Ist mir beim Sehen bewusst, dass – und wie – ich sehe?

Diese Überlegungen können Sie nun beim Betrachten der Permutationen heranziehen: Es geht um die syntaktische Funktion im Sehprozess.


In der Arbeit «Fragmentarische Permutation Matrix» von 1999 sehen Sie eine quadratische – wieder nicht rechtwinklige – weiße Leinwand, auf der sich 16 verschiedenfarbige Dreiecke befinden. Je nachdem, worauf Sie nun Ihren Blick konzentrieren, tritt auch hier eine andere Konstellation und räumliche Wahrnehmung zutage. In jeder Vierer-Reihe hat jedes Dreieck eine andere Farbe, und jedes zeigt in eine andere Richtung.


Bei «Concav 81» von 1998 werden die Schnittpunkte der Linien – also die kleinen Kreuze – als Raummarken hervorgehoben. Sie bilden die Punkte, die den Raum definieren. Bei einem Quadrat hat man ja in der Regel eine genaue Vorstellung – schauen wir uns hier z. B. die Fenster an. Bei den schiefen Bildern Hans Jörg Glattfelders entsteht der Eindruck einer Krümmung. Glattfelder arbeitet aber nicht klassisch mit Fluchtpunkten, er thematisiert vielmehr den Widerspruch zwischen Fläche–Raum–Krümmung.


Um die Ecke hängt die «Budapest Permutation» von 2014, die aus 16 Elementen in verschiedenen Größen besteht und durch die direkte Befestigung auf der Wand eine noch stärkere Unmittelbarkeit bezüglich des Raumbezugs mit sich bringt. Die Quadrate sind schwarz sowie in den Primärfarben Rot, Blau und Gelb gehalten. Es erschließen sich verschiedene perspektivische Interpretationen. Durch die unterschiedlichen Größen und Kippungen der Quadrate entsteht in einem flachen Grundraum die Illusion einer Raumkrümmung und Verschiebung. Hier kommt noch hinzu, dass die Quadrate tatsächlich durch die Aufbringung auf der Wand eine echte haptische Tiefe besitzen, was zu einer zusätzlichen Ebene in der Raumwahrnehmung führt. Dass sich Ihr Blick beständig entscheiden muss, welche Konstellationen er aufgreift, ob er sich auf die farbigen Flächen, ihre Bezüge zueinander oder die Leerstellen dazwischen konzentriert, führt zu einem höchst dynamischen Sehprozess. Jede Farbe kommt in jeder Größe genau einmal vor. So können Sie sich nur auf alle kleinen Quadrate konzentrieren – oder nur auf alle gelben Quadrate.

Auch das ist ein wichtiger Punkt, der Stellenwert der Farbe: Für Glattfelder findet Farbe in der konkreten Malerei völlige Freiheit und ihr sind keine figürlichen oder symbolischen Beschränkungen auferlegt, außer jene, die ihrer eigenen Natur entstammen.


Hans Jörg Glattfelder hat ein Glossar mit für ihn wichtigen Worten und Begriffen zur konkreten Kunst verfasst, um eine Basis für Gespräche zu schaffen, in denen alle Beteiligten bestimmte Begriffe auch gleich verwenden bzw. das Gleiche meinen. Zum Thema „Wahrnehmung“ schreibt er, dass man beim Betrachten eines figürlichen Bildes automatisch den dargestellten Gegenstand oder die Figur fokussiert und sich dadurch einen scheinbaren Bildraum konstruiert. „Durch eine konkrete Malerei hingegen“ – so Glattfelder weiter – „empfängt der Blick keinerlei tiefenräumliche Hinweise, er bleibt an die (konkrete) Bildfläche gebunden, an die reine Sichtbarkeit des konkreten Bildgegenstands. Dadurch wird er zur Reflexion über den Akt des Sehens selbst: was sehe ich, während ich sehe?“

Hierin findet sich durchaus auch eine Verwandtschaft zur Phänomenologie, wie Glattfelder ebenfalls in seinem Glossar beschreibt: denn die Phänomenologie nach Husserl fordert eine „rigorose Zuwendung zu den Sachen selbst“ – und auch das „Betrachten von konkreter Kunst fordert ein Ausschließen jeder Bezugnahme auf ein außerhalb des Sehvorgangs Liegendes“.


Eine weitere Frage, die sich der Künstler stellt, ist: „Sehe ich nur, was ich schon weiß?“

Wir alle haben abertausende Bilder in unseren Köpfen abgespeichert, und oftmals reicht uns ein kurzer Blick auf die Dinge, um – vermeintlich – zu sehen und zu verstehen, was wir da vor uns haben. Diese Nachlässigkeit, mit der uns unser Gehirn vielleicht vor einer sonst oftmals unverarbeitbaren Reizüberflutung schützen möchte, stellt Hans Jörg Glattfelder auf die Probe:

Wir haben ja unser Bildgedächtnis, geschult an bestimmten Formen, die wir kennen, von denen wir gelernt haben, was sie bedeuten. Im Sehvorgang ist es dann häufig so, dass unsere Wahrnehmung uns auf den ersten Blick etwas zeigt, was wir zu kennen glauben.


Als Beispiel hierfür dient die Arbeit «Grand trémolo» von 2000 aus der Werkgruppe «Kontrapositionen mit oszillierenden Linien»: Hier sehen wir von weitem und auf den ersten Blick das, was wir vermeintlich kennen: eine runde Form. Und wir haben gelernt: eine runde Form nennt man Kreis.

Doch bei näherer Betrachtung entpuppt sich der Rand des Kreise als tückisch, brüchig und zum Teil auf einmal gar nicht mehr rund: wenn wir nicht genau hinschauen, erliegen wir einer Täuschung über etwas, das wir vermeintlich zu kennen glauben.


Hans Jörg Glattfelder differenziert zwischen einem sehenden Sehen und einem wiedererkennenden Sehen. Seine Bilder sind für das sehende Sehen gemacht. Sich auf das Sehen selbst zu konzentrieren, das ist das Entscheidende, also sich nicht auf das zu verlassen, was wir zu kennen und zu sehen glauben, sondern wirklich hinzuschauen.


Wirklich hinschauen müssen Sie auch bei «Catenaria» von 1994. Auf den ersten Blick zeigt sich uns eine Leinwand mit einer weißen und schwarzen, leicht verschobenen Fläche, die horizontal von einer roten, sanft nach unten geschwungenen Linie durchtrennt wird. Doch: es ist keine gemalte Linie, sondern vor der Leinwand hängt eine reale rote Kordel durch. Wieder geht es hier um das Überwinden einer Exaktheit, um das sehende Sehen und darum, dass Sie als Betrachter Ihre Sehgewohnheiten hinterfragen und interaktiv mit dem Kunstwerk in einen visuellen Dialog treten.

Ich habe vorhin bereits kurz die ständige Bewegung und den permanenten Wandel in den Werken Glattfelders angesprochen. Dies können Sie als Betrachter nicht nur selbst aktiv erleben und ausführen, sondern es gibt auch kinetische Arbeiten, die solch einen Zyklus durchlaufen.


Die Installation hinter mir mit dem Titel «Décéleration» (slow eggs) von 2012 besteht hier aus 13 Elementen, die sich im Laufe einer Stunde einmal komplett um sich selbst drehen. Das heißt, ihr räumliches Bezugssystem und ihre Beziehung zueinander sind in einem ständigen Umbruch. Hierbei geht es Hans Jörg Glattfelder nicht um eine mathematische Exaktheit, sondern darum, was unser Geist auch erfassen kann und wie er diese Veränderung wahrnimmt.


Kehren wir nun noch einmal zu den Ausgangsfragen der Ausstellung zurück, die man sich im wahrsten Sinne des Wortes gar nicht oft genug vor Augen führen kann:

"Was sehe ich eigentlich beim Sehen?" "Ist mir beim Sehen bewusst, dass und wie ich sehe?" "Sehe ich nur, was ich schon weiß?"

Die Kunst von Hans Jörg Glattfelder bietet vielfältige und vielschichtige Möglichkeiten, diese Fragen zu beantworten, und jeder von Ihnen wird eine andere Antwort finden, unterschiedlich sehen, unterschiedlich wahrnehmen. Der Künstler sieht die ausgestellten Werke als eine Art Turngeräte, an denen man diese Fragen exerzieren kann. Also: Nutzen Sie die Turngeräte, schlagen Sie einen Salto, üben Sie Bockspringen und schwingen Sie sich am Seil entlang – natürlich alles nur im übertragenen Sinne! Und: Nehmen Sie sich Zeit und lassen Sie sich auf die Arbeiten, auf diese visuelle Wahrnehmungserfahrung ein – denn um es abschließend mit den Worten von Hans Jörg Glattfelder zu sagen: "Wer nicht mitspielt, hat nichts von der Sache."


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!


Das Gespräch mit

HANS JÖRG GLATTFELDER

führte EVA FÜRSTNER


"Was sehe ich eigentlich beim Sehen?"
"Ist mir beim Sehen bewusst, dass und wie ich sehe?"
"Sehe ich, was ich schon weiß - oder erkenne ich durch Sehen?"



Eva Fürstner: Meine erste Frage betrifft die Konzeption deiner Ausstellung im Museum der Wahrnehmung, was waren deine Überlegungen dazu?


Hans Jörg Glattfelder: Es ist ja das Museum der Wahrnehmung, das mir schon seit vielen Jahren als Institution bekannt ist und das ich vor zwei Jahren schon besucht habe. Als die Möglichkeit kam, hier auszustellen, habe ich mir gedacht, ich mache es über das Sehen, also über dieses zentrale, immer präsente Thema in meiner Arbeit, also was sehe ich beim Sehen? In der konkreten Kunst, die ich betreibe, ist ja der Sehvorgang das Wichtige, nicht der Gegenstand, der dann am Schluss in der Wahrnehmung da ist. Die konkrete Kunst will auf den Vorgang des Sehens selbst verweisen und keine Inhalte vermitteln oder Geschichten erzählen. Das scheint mir sehr wichtig, weil in unserer Zeit erscheint mir alles sehr verbal und wir betreiben ein wiedererkennendes Sehen, also wir sehen Dinge, z. B. dass da ein Haus ist, das wir wissen, und da ist das Sehen nur noch Bestätigung. Was ich den Leuten nahebringen möchte, ist das sehende Sehen, wo es wirklich nur um das Sehen geht. Ich habe die Werke dann eine Art Turngeräte genannt, die das sehende Sehen möglich machen, wo man sich amüsieren und einüben kann. Das Amüsieren möchte ich unterstreichen, das ist sehr wichtig. Es darf nicht das Dogmatische, Oberlehrerhafte, der Hinweis mit dem erhobenen Zeigefinger, dass man hier dieses oder jenes Phänomen erkennen muss, sein. Man muss alles sehend entdecken.


E. F.: Es ist also ein stark spielerisches Element in der Ausstellung?


H. J. G.: Ja, sehr!


F: Bevor wir vielleicht auf die einzelnen Werke deiner Ausstellung zu sprechen kommen, möchte ich dich noch zu deinen ursprünglichen Ideen fragen. Du hast in der Vorbereitung zur Ausstellung mit dem Raumplan, mit dem oktogonalen Grundriss des Museums gearbeitet, hast aber nach deiner Ankunft hier gleich gesagt, du müsstest sehen, wie sich deine Ideen hier vor Ort einfügen. Ist es in etwa so geworden, wie du es vorbereitet hast oder hast du etwas verändert?


H. J. G.: Ursprünglich hat mich dieses Achteck schon sehr intrigiert oder irritiert und ich hätte gerne etwas mit dem Achteck gemacht, aber es hat sich als zu schwierig und zu arbeitsaufwändig herausgestellt. Um es kurz zu skizzieren: ich hätte gern statt dem Achteck ein Neuneck gemacht, vielleicht einfach, indem man es am Boden ausklebt. Bei dieser Idee ging es auch wieder um die Beziehung zwischen Denken und Sehen. Das ist das zentrale Thema bei all meinen Arbeiten, es muss sichtbar bleiben, es muss sehenderweise Spaß machen, Neugierde erwecken, aber es muss auch ein Wissen da sein. Ich meine damit das, was die Griechen die Episteme nannten, das über das Wissen selbst Reflektierende.


E. F.: Du schreibst ja sehr viel über die konstruktiv-konkrete Kunst und über deine Arbeit im Speziellen.


H. J. G.: Ich denke ständig über diese Beziehung nach und ich meine, das ist sehr wichtig in der konstruktiv-konkreten Kunst. Im Künstlerischen geht es ja oft um das Intuitive, das Beobachten und das Erleben, die Anmutung der Gegenstände, die ja dann das Sehen dem Betrachter weitervermitteln wollte. Bei uns Konstruktiven kommt es mehr aus dem Denken, aber es bleibt sinnlich. Es gibt die Beziehung zwischen Mathematik und Kunst, aber es darf nicht so sein, dass man den Leuten vorrechnet, was ein Goldener Schnitt ist. Es gehört visuelle Erfindung zu dieser Kunstausübung – das ist sehr wichtig! Das können manchmal auch witzige Einfälle sein, wie z. B. in der hier präsentierten Wandinstallation „Décéleration“ (Entschleunigung), bei der sich der spontan und salopp formulierte Titel „Langsame Eier“ eingebürgert hat. Es sind hier 13 eiförmige dunkelblaue Elemente, die sich – angetrieben von jeweils einem kleinen Uhrwerk – einmal in der Stunde um sich selbst drehen, d. h., der Minutenzeiger hat diese Eiform und die Konstellation ändert sich ständig. Es spielt sich an der Grenze des noch knapp Sichtbaren und fast schon Unsichtbaren ab. Wenn man sich die Mühe macht und sich entschleunigt, sich also verlangsamt vor dieser Installation, sieht man nach einer gewissen Zeit, gerade da, wo die Spitzen aufeinander weisen.


E. F.: Hier könnte es sein, dass ein Betrachter beim raschen Durchgehen die langsame Bewegung gar nicht wahrnimmt?


H. J. G.: Ja, der nimmt das vielleicht einfach als Komposition wahr, aber nicht als „sich bewegendes Wesen“. Ich habe es nachgemessen, die „Eispitze“ bewegt sich in 6 Sekunden einen Millimeter, was man, wenn man sich sehr nahe dran begibt, besser sehen kann. Aber das Wichtige ist, dass man sich hier einige Minuten Zeit nimmt und dieses Erlebnis auf sich einwirken lässt, die sich verändernde Konstellation beobachtet.


E. F.: „Décéleration“ ist ja eine neuere Arbeit von dir, aus dem Jahr 2012. Bevor wir auf die nächsten Arbeiten aus unterschiedlichen Schaffensperioden zu sprechen kommen, bitte ich dich, deinen künstlerischen Beginn zu skizzieren.


H. J. G.: Ich war Mitte der 1960er-Jahre natürlich sehr beeindruckt von den bekannten und sehr aktiven konkreten Künstlern wie Richard Paul Lohse oder Max Bill, aber nach relativ kurzer Zeit war mir – und auch anderen Künstlern meiner Generation – bewusst, dass es nötig war, sich generationell abzuheben. Bei mir war es dann in erster Linie der Versuch, mit industriellen Fabrikationsmethoden Kunst zu machen.


E. F.: Das waren die Pyramiden-Reliefs?


H. J. G.: Ja, diese Pyramiden-Reliefs wurden kleinindustriell mit Matrizen aus Plastik hergestellt. Ich konnte dadurch mit farbigen Variationen Einzelwerke anfertigen, es waren keine Auflagen, aber es gab einen sehr hohen Wiedererkennungswert, was ja im Kunstleben sehr wichtig ist. Und ich war dann plötzlich sehr präsent in Deutschland. Ich konnte in diesen thematischen Gruppenausstellungen sehr schnell mitmachen, wurde auch eingeladen. Das war gewissermaßen der Einstieg, der sich doch sehr von Lohse und Bill abhob. Es waren Objekte, es war nicht Malerei, und ich denke, dieses ingenieurhafte Denken war schon ein neuer Schritt unserer Generation. Wir wollten Kunst für das Volk machen, wir wollten nicht Riesenpreise erzielen, wir wollten Auflagen machen, also auch Drucke und Siebdrucke. Es lag uns sehr viel an der Verteilung der Kunst. Wir dachten nicht so sehr an den Kunstmarkt, sondern es ging um dieses volksnahe Produzieren. Das ging eigentlich sehr gut, was zwar nicht hieß, dass die arbeitende Klasse ihre Wohnungen mit konkreter Kunst füllten, aber die Schwellenangst vieler Leute wurde dadurch abgebaut. Es waren die Jahre, in denen Vasarely der große Weltstar war, und man empfand uns als zu dieser Weltbewegung gehörig.


E. F.: Wie ging es dann weiter?


H. J. G.: Anfang der 70er Jahre dachte ich, dass es nun so weiter gehen würde. Ich bekam mehrmals Gelegenheit, in recht guten Galerien auszustellen. Doch dann kam der erste große Petrolschock, es gab eine echte Wirtschaftskrise und der quirlige, blühende Kunstmarkt sackte plötzlich ein und nach den guten fetten Jahren kam der Einbruch. Ich glaube, 1976 habe ich das Jahr über kein einziges Werk verkauft. Da musste man sich arrangieren. Meine Frau und ich haben in dieser Zeit in Mailand alles Mögliche gemacht, z. B. Wohnungen ausgemalt oder meine Frau war Sanitär- und Elektroinstallateurin und ich war der Mithelfer u. v. m. Es war auch eine amüsante Zeit und ich habe nie darüber getrauert, dass der Erfolg im Moment verpufft ist.


E. F.: Was war der nächste Schritt nach diesem Einbruch?


H. J. G.: Ich habe mir dann neue Fragen gestellt. Die Züricher Konkreten sind ja, sagte ich mir, an eine doch sehr rückständige Geometrie gebunden, an die Schulgeometrie, die seit Euklid die gleiche geblieben ist. Ich habe mich dann sehr in die Literatur gestürzt, über die neuen Entwicklungen der Geometrie gelesen.


E. F.: Wie hast du dann die neuen mathematischen Erkenntnisse verwendet oder verwertet in deiner Kunst?


H. J. G.: Ich bin ja kein Mathematiker, und ich muss sagen, meine einzige ungenügende Note im Abiturzeugnis hatte ich in Mathematik. Aber die Genauigkeit des mathematischen Denkens hat mich immer sehr fasziniert. Über Geometrie lesend, entdeckte ich, dass seit 1800 große Umwälzungen stattgefunden haben, von Gauß bis zur nicht-euklidischen Geometrie von Lobatschewski, von Bolayi, dem Ungarn, und später dann die Weiterentwicklung von Riemann usw. Nicht dass ich das mathematisch voll durchdenken konnte, aber die Bedeutung, die das für das räumliche Erfahren hat, wurde mir klar. Es wurde mir auch klar, dass Einstein ohne diese Vorgaben von Riemann beispielsweise seine Relativitätstheorie mathematisch gar nicht hätte untermauern können. Ich sagte mir dann, als Künstler muss man doch versuchen, auf der Höhe seiner Zeit zu sein. Ich will versuchen, diese Geometrie sinnlich wahrnehmbar zu machen. Da stößt man sofort auf Schwierigkeiten, denn der gekrümmte Raum Einsteins stimmt in ganz großen Dimensionen, in Lichtjahren, aber nicht auf unserer runden Erde. Um das zu visualisieren, verfiel ich auf die Schliche der Metapher. Ich sagte, ich kann das nicht direkt wahrnehmbar machen, aber ich will ja einen Denkanstoß geben.


Da kam ich durch verschiedene Versuche auf diese unregelmäßigen Vierecke, die etwa ab 1977 bis heute mein plastisches Denken und mein Ausdrücken bestimmt haben. Es geht mathematisch ausgedrückt darum, dass ich ein hyperbolisches Paraboloid, also eine Sattelfläche auf diese unregelmäßige Fläche projiziere. Dadurch entsteht der Eindruck, dass da eine Krümmung ist – es krümmt sich meistens zwischen den beiden seitlichen Spitzen nach vorn – und gleichzeitig sieht man doch, dass diese Fläche flach an der Wand hängt. In diesem Widerspruch liegt der Denkanstoß, die Metapher. Es soll den Leuten Lust machen, sich mehr über diese Gegebenheiten zu informieren. Und es spielen dann ja alle möglichen grafischen und malerischen Erfindungen mit hinein. Die malerische Lust an diesen Bildern war auch, dass es eine gewisse Leichtigkeit ausstrahlt. Ich habe immer wieder von Betrachtern gehört, dass sie das auch so empfinden. Gelegentlich wurden meine Bilder als „Schwebemetaphern“ bezeichnet, also dieses Schwebende, Leichte, auch Musikalische wurde empfunden und nicht dieses drohend Strenge, wenngleich es streng ist, weil nach einer vorgegebenen Regel verfahren wird.


Wir sind damit bei diesem Begriff, der von Philosoph Hans Heinz Holz geprägt wurde, der „strengen Konstruktion“. Er hat mir die Freude gemacht, dass er mich da auch dazugezählt hat. Ich habe viel mit ihm diskutieren können, was unheimlich anregend für mich war, er war ein großartiger Denker. Er sagt ja, der strenge Konstruktivismus basiere darauf, dass alles, was in einem Bild nach einer vorgegebenen Regel entsteht, jederzeit von jedermann durch klares Denken auf diese Grundregel zurückgeführt werden kann. Es gibt also keine Geschmacksentscheidungen, d. h., wenn man eine bestimmte Anzahl von Farben angibt, dann muss das nach diesen Spielregeln wie bei einem Schachspiel durchgespielt werden. Vielen Leuten liegt das nicht fern, denn sie lösen Sudokus, sie beschäftigen sich mit Denksportaufgaben, also das ist vermutlich ein menschliches Grundbedürfnis. Die konstruktive Kunst versucht auf dieser Ebene zu operieren.


E. F.: Du legst dir zuerst diese Regeln fest und du hast auch mehrmals gesagt, dass es in diesem oder jenem Kunstwerk aufgegangen ist. Gibt es auch manchmal Ergebnisse, wo du sagst, da funktioniert es nicht, und du veränderst die Regel?


H. J. G.: Na ja, da widerspricht man der Regel. Es gibt ja diese zwei Schulen. Die Schule von Lohse, der sich streng an die Regel hält – und da könnte die Welt zusammenbrechen –, und wenn er sagt, dass der Übergang vom Gelb zum Grün und zum Blau in dieser modularen Ordnung sein muss, dann macht er das. Stankowski hingegen, der in meinen Augen auch ein großartiger Künstler ist, hat immer gesagt, ein kleiner Schuss Unregelmäßigkeit macht das Ganze erst richtig spannend und ist das Salz in der Suppe. Hans Heinz Holz hat auch Stankowski zu den strengen Konstruktiven gezählt. Bei mir gibt es auch Momente, wo ich ein wenig verändere, z. B. etwas mehr dehne, also ich bin auch eher auf der Stankowski-Seite. So sehr ich Lohse mochte, diesen strengen und immer auch polternden Menschen.


E. F.: Mir fällt da wieder einmal Vera Molnars 1 Prozent Unordnung ein.


H. J. G.: Ja, und es ist auch zu sagen, dass Erfindung nur möglich ist im Spannungsfeld von Ordnung und Unordnung, denn bei der Ordnung führe ich ein Konzept aus und wenn ich Unordnung einführe, kommt es zu einer Störung, wie auch in der Natur eine genetische Störung vorkommen kann, was nicht immer nur Gutes bedeutet, aber jedenfalls Neues.


E. F.: Kommen wir zu den ausgestellten Werken „Lineare Variation 7 x 7“ und „Lineare Variation 8“ aus den Jahren 1991 und 1992. Kannst du diese Arbeiten erläutern?


H. J. G.: Das war eine Serie. Ich hatte die Freude, dass ich damals im Josef-Albers-Museum in Bottrop ausstellen konnte, was eine Herausforderung für mich war – allein schon der Name Albers. Davor hatte ich eher in kleineren Galerien ausgestellt und nicht in größeren Institutionen, und da habe ich mir vorgenommen eine Reihe von neun gleichen Formaten zu gestalten. Es sind Bilder nach einer strengen Vorgabe, die Aufteilung kann man sich wie ein verzerrtes Netz vorstellen, denn ich habe in dieser Serie auch horizontale Netzstrukturen geschaffen, was einen völligen anderen Ausdruckswert ergibt. Man spürt dann auch, dass trotz strenger Konstruktion eine Anmutung entsteht. Es ist dann eben die künstlerische Entscheidung, dass man aus der Vielfalt der Möglichkeiten bestimmte Lösungen auswählt, vielleicht wie ein Musiker auch auswählt innerhalb der Tonleiter.


E. F.: Sehr schön kann man genau diesen Prozess im Film „Glattfelder unterwegs 1997“ anhand einer Werkserie sehen, wo du mit orangefarbenen und schwarzen Quadraten eine Komposition erstellst und du dann schrittweise die schwarzen Quadrate variierst, also beispielsweise deren Position, Größe etc. veränderst, während die orangen Quadrate die Konstante bleiben.


H. J. G.: Dort habe ich es didaktisch vorgeführt, wie man von strenger Ordnung in Richtung Unordnung geht.


E. F.: Zum Schluss sind es ja dann geworfene Quadratformen.


H. J. G.: Ja, die Methode wird aufgezeigt und auch, dass man daraus verschiedene Lösungen herausgreifen kann. In der hier gezeigten zweiten „Linearen Variation“ werden die vertikalen Striche durch horizontale Linien halber Länge ergänzt, sodass diese Z-ähnlichen Figuren entstehen. Die Aufteilung ist hier größer, während es im ersten sieben pro Linie sind, sind es hier acht. Mit dieser Lösung wird die Komposition viel voller.


E. F.: Ergeben sich diese Variationen auch mitunter im Prozess des Anfertigens oder überlegst du schon sehr genau vorher, denn du sagst ja im Film auch, dass du regelmäßig deine Skizzenbücher durchblätterst und nachsiehst, wie du in der Vergangenheit gearbeitet hast, es ist ja wie ein Prozess, oder?


H. J. G.: Ja, man holt Energie aus früheren Überlegungen. Überlegen bedeutet ja übereinanderlegen, Verbindungen herstellen, wenngleich natürlich auch Anregungen von außen kommen, von anderen Künstlern. Aber ich glaube, es ist auch heute noch sehr wichtig, dass man versucht aus dem eigenen Garten etwas zu erzeugen.


E. F.: Weil das ja – wie du auch sagst – für die Weiterentwicklung wichtig ist.


H. J. G.: Ja, das glaube ich schon. Es geht auch darum, dass das, was man liest, was einen beschäftigt, man langsam versucht einzubringen in seine Arbeit, wie eben bei mir die Geometrie oder auch den Begriff der Metapher, den ich für sehr wichtig halte. Es gibt eine richtig paradigmatische Strömung, Hans Blumenberg gehört dazu, die wirklich darlegt, wie das metaphorische Denken bei uns in der Sprache verankert ist, was alles bildhaft gebraucht wird, schon räumliche Metaphern, wie für das Überlegen, das Drüber und Drunter. Unser Denken ist durch diese sinnlichen Vorgaben eindeutig geprägt und die Metapher ist eine Form der Reflexion darüber.


E. F.: Auf die beiden „Linearen Variationen“ folgt nun dein Werk „13 blaue Eindringlinge“, wo uns wieder die gleiche Form begegnet.


H. J. G.: Ja, es ist wieder dieses Paraboloid, wo die Punkte auf den Kreuzungspunkten dieses Paraboloids liegen, auf dieser Sattelfläche ausgebreitet werden. Durch diese Form entsteht ein Ausholendes, welches in einer Quadratform nie so zum Tragen käme. Die dreizehn blauen Formen sind gewissermaßen eine amüsante Note, eine Freiheit, die ich da einbringe, die natürlich das Sehen ein bisschen lenkt, man kann sich dem schwer entziehen. Es erscheint fast musikalisch, diese Linienbewegung, der starke Rhythmus, der durch diese Ordnung vorgegeben ist.


E. F.: Die Position der dreizehn blauen Formen ist nach einem System erfolgt?


H. J. G.: Nein, das ist wirklich willkürlich, es soll keinerlei Struktur suggerieren, es ist keine Form dahinter, es ist einfach eine Streuung.


E. F.: „Catenaria“ ist im Ablauf das nächste ausgestellte Werk. Es hebt sich in der Form und Gestaltung von den meisten hier ab.


H. J. G.: Es war ein Abschlusswerk nach einer geplanten Ausstellung, das wirklich ganz synthetisch mit drei Gegebenheiten konzipiert ist. Die weiße und die schwarze Fläche, die deckungsgleich sind und durch diese rote durchhängende Kordel, die physisch da und nicht gezeichnet ist, zusammengefasst wird. Ich bin heute noch zufrieden damit. Ich bin stolz darauf, dass ich mit meiner Frau Eva diese Kordel gedreht habe – sie hat mir immer wieder mit guten Ideen geholfen –, denn diese Kordel muss eine gewisse Schwere haben, d. h., wir haben diesen Faden zusammengelegt und mit Schlüsseln gedreht – und es ist nach mehr als zwanzig Jahren noch immer die gleiche Kordel. „Catenaria“ ist ein Wurf und das finde ich auch wichtig, denn ich habe dieses Werk als ein Einzel-Aperçu gemacht, das gibt es nur dieses eine Mal und ich habe keine Variationen davon in Blau oder Gelb etc. gemacht. Das war damals mein Wort und dabei bin ich geblieben. Und deshalb ist es auch ein Bild, das ich immer in meinem Wanderzirkus mitführe, ich würde es kaum hergeben.


E. F.: „Catenaria“ ist 1994 entstanden, gab es zu dieser Zeit einen prägnanten Einschnitt in deinem Schaffen?


H. J. G.: Ich habe da versucht, langsam von dieser Fixierung auf diese eine unregelmäßige Form wegzukommen, aber ich konnte mich dann doch nie ganz davon lösen. Aber ich wollte mir selber beweisen, dass man versuchen muss, nach möglichst vielen Seiten auszuloten und hier ist schon das Lapidare, das mich auch heute noch überzeugt: nämlich, dass man mit ganz wenigen Mitteln eine räumliche Wirkung erzielen kann. Es entsteht ja eine ganz komplexe räumliche Anmutung.


E. F.: Ist es noch Bild oder schon mehr?


H. J. G.: Man könnte sagen, es ist schon fast ein Relief, es ist ja materiell anders, wie wenn ich mit einem Pinsel oder mit einer Reißfeder diese Linie malen oder zeichnen würde. Es ist wirklich ein physikalisches Ereignis. Aber ich will da nicht allzuviel dazusagen, denn man kann es totreden. Ich glaube, die Leute müssen es sich einfach ansehen.


E. F.: Dann lass uns weiterwandern zu den Beispielen aus der Serie „Fragmentarische Permutation“.


H. J. G.: Ja, das ist aus etwas späterer Zeit, davon gibt es noch mehr, aber ich weiß nicht, wo die hingekommen sind. Ich habe hier auch die Fläche in vier horizontale und vertikale Linien, nach rechts und nach links geteilt, und auf den Schnittpunkten habe ich die dreieckigen Formen platziert und unterteilt. Es gibt vier Möglichkeiten: nach unten, nach oben, nach links und nach rechts. Ich habe diese Formen dann so verteilt, dass sie jeweils in einer Richtung nur einmal vorkommen und habe vier Farben gegeben, die zur besseren Erkennung in den vier Ecken positioniert sind. Vor diesen Bildern kann man sich die Konstellationen herausgreifen, z. B. wenn ich auf das Schwarz achte, denn alle Richtungen kommen nur einmal vor, es gibt kein schwarzes Dreieck, das zweimal nach rechts deutet, und so ist es auch bei den Farben. Das Ganze bekommt eine sehr tänzerische Allüre, man kann sich schwer entziehen, dass das so balletthaft ist, allein durch die Richtungen. Es sind ja Vektoren, die nach oben und nach unten deuten und das Auge verfolgt diese Bewegungen. Im nächsten Werk habe ich dann daraus die zentralen Elemente herausgegriffen und diese dann ganz sparsam zentral so angeordnet. Es ist nicht das Weglassen von einzelnen Elementen, sondern ich habe diese Elemente herausgegriffen und etwas Neues daraus gemacht. Es sind sehr minimalistische Bilder, aber die Variationsbreite ist da riesig. So ein Bild hat eine sehr starke plastische Ausdruckskraft und man spürt diese Krümmung, spürt, dass es nicht nur etwas Dekoratives ist, sondern eine geometrische Aussagekraft hat.


E. F.: Gegen das Dekorative verwehrst du dich ja sehr.


H. J. G.: Ja, das halte ich für die große Gefahr der gesamten konkreten Kunst, dass man nur noch gefällige Formen, gefällige Muster macht. Ich habe ja einmal etwas schnöde gesagt, dass das langsam die Kunst ist, die man in den Bankschalterhallen akzeptiert, weil sie so harmlos und schönrednerisch ist – dagegen verwehre ich mich. Ich möchte immer, dass Denkanstöße kommen. Ich gebe mir auch immer neue Vorgaben, ich versuche möglichst wenig zu wiederholen, obwohl ich versuche im gleichen Denkprozess zu bleiben.


E. F.: Widmen wir uns deiner Arbeit „Concav 81“ von 1998.


H. J. G.: Bei dieser Arbeit habe ich versucht, die Sattelfläche einmal nach innen zu wölben und habe versucht, die Kreuzungspunkte wirklich als Kreuze auszubilden, und dies durch die Farbabläufe noch unterstrichen, durch die Aufhellungen, ausgehend vom Schwarz in der Mitte. Man sieht es dem Bild vielleicht nicht an, aber es war sehr viel Arbeit, alle Richtungen zu bestimmen, denn es gibt darin auch noch eine Brechung, diese sozusagen durchhängende Diagonale. Auch hier könnte ich die Regeln aufschreiben und hier habe ich ganz streng nach diesen Regeln gearbeitet. Aber in meinen Bildern überlagern sich die Farben, das Lineare, also es wird da sehr viel mitverarbeitet. Ich glaube, meine Bilder sind nie eine stereotype Äußerung einer geometrischen Form, aber die Geometrie ist immer eine Grundlage, worauf man einen Diskurs, ein Gebäude errichtet.


E. F.: Angesichts solcher Wölbungen möchte ich dich jetzt noch auf deine, 1976 entstandene Arbeit „Compatto sferico“ ansprechen, die ja einen Wechsel in deiner Arbeit darstellt, wo du vom reinen rechten Winkel abweichst.


H. J. G.: Ja, es ist eine Kugelform, die jedoch auf die Fläche projiziert wird, und dadurch entsteht ein räumlicher Schein und der war natürlich bei den alten Züricher Konkreten streng verpönt, wie jeder Begriff von Illusionismus. Und durch meine Theoretisierung der Metapher habe ich diese strenge Vorgabe überspringen können. Das hat Lohse, aber auch Bill sehr verärgert, sie haben das als eine Frechheit empfunden, obwohl ich nachher, besonders mit Lohse ein fast freundschaftliches Verhältnis hatte, wir haben viel miteinander diskutiert und manchmal auch getrunken. Es war eher Bill, der in Zürich der Platzhirsch war, die dominante Figur, er war ja auch ein hochintelligenter Mensch, aber auch ein Machtmensch, er wollte die Situation kontrollieren, überall sein Placet geben, und ich habe mich dem entzogen. Er hat lange, in den 1970er-Jahren gesagt: „Ach, dieser Glattfelder mit seinen Metaphern, der geht fremd, der nimmt sich Freiheiten heraus!“


E. F.: In der Ausstellung folgt nun das Werk „Rechtwindschief“ von 1987, der Titel hier ist auch auffällig.


H. J. G.: Bei meinen Titeln versuche ich auch immer, den Kopf über Wasser zu halten, eine gewisse Ironie einzuspielen.


E. F.: Hier ist auch wieder das andere Format auffallend.


H. J. G.: Ja, es sind eigentlich zwei Quadrate, die leicht verschoben sind, und das schwarze Netz ist auf die rechte Seite ausgerichtet und das weiße auf die linke. Es entsteht hier an der Achse eine ganz besondere Wölbung, es ist, als ob sich ein Buch öffnen würde. Es entgleitet einem der Blick, wenn man den weißen Linien folgt, es wird in der Wahrnehmung sehr kompliziert, obwohl es im Grunde ein sehr einfaches Bild ist. Ich benutze ja sehr häufig einen Mittelton, das ist hier das Blau, und dazu einen viel helleren und einen viel dunkleren Akzent oder ein Rastersystem. Es kommt sehr häufig vor, auch bei den nächsten Bildern.


E. F.: Es ist doch eine Faszination oder eine Ungewissheit, die diese mittige Bruchlinie hervorruft, finde ich.


H. J. G.: Ja, die Spannung ist da und es ist nicht immer einfach, wenn man den Menschen erklärt, dass man es nicht sofort erfassen kann durch das Sehen. Und wenn man es erfasst, also den Raum erfasst, dann wird es plötzlich unheimlich faszinierend. Und wenn man immer bedenkt, dass wir im Museum der Wahrnehmung sind und Werner Wolf sich ja auch sehr intensiv mit räumlichen Organisationen auseinandersetzt und dass das Sehen verunsichert wird, aber auch bereichert.


Auch wenn wir auf das nächste Bild „Dimensionelle Permutation 4 x Grau auf Weiß“ schauen, tritt das zutage. Es ist ein so einfaches Bild, mit einem neutralen Grauton als Hintergrundfläche, und dann habe ich zwei Dunkelgrautöne, das dunkle Grau und das etwas hellere Dunkelgrau, da kann man schon davorstehen und überlegen, tritt es nach vorn oder zurück? Und dann dieses Fast-Weiß und dieses hellere Grau permutieren. Es gibt vier Größen und vier Farben und die sind so über die Fläche verteilt, dass jede Farbe und jede Größe in jeder Reihe nur einmal vorkommt. Das ist das Prinzip des Sudokus, obwohl ich diese Systematik schon angewandt habe, als das Sudoku noch nicht verbreitet war. Wenn man sich auf dieses Bild hier einlässt, passiert nach ein paar Sekunden etwas, das ganz eigentümlich ist, wenn man sich in bestimmter Entfernung und in einem bestimmten Winkel davor positioniert und das Licht von oben etwas abgeschirmt wird, dann fangen diese Quadrätchen, diese Vierecke zu flimmern an und bilden sich daneben auf der grauen Fläche ab, wo man sie aber nicht fixieren kann, denn sobald man sich drauf konzentriert, verschwinden diese wieder. Das gibt diesem Bild ein Pulsieren mit der Zeit, es ist von unheimlichem Reichtum. Viel einfacher kann man es eigentlich nicht machen. Ich hatte das Bild lange Zeit bei mir gehabt und war absolut fasziniert, was sich da abspielt.


E. F.: In diesem Zusammenhang ist spannend, dass die oberen Bildkanten sehr präzise zu sehen sind und die unteren Kanten diffus erscheinen, weil sie auch von der Wand leicht entfernt sind. Dieses Werk ist ein wunderbarer Übergang zum Werk auf der gegenüberliegenden Wand, zur „Sphärischen Permutation“ von 2011. Du hast mir auch gesagt, dass du das sehr bewusst gegenüber positionieren wolltest.


H. J. G.: Ja, es geht hier um den gleichen Denkprozess, jedoch mit völlig anderen Mitteln dargestellt. Hier sind es vier Kugelgrößen und vier Kugelfarben, von einem Fast-Weiß, ein helles Grau, ein dunkleres Grau und ein fast schwarzes Grau. Und diese Kugeln sind wieder nach diesem Prinzip verteilt, also jede Kugelgröße und jede Kugelfarbe erscheint einmalig pro Zeile. Es sind hier ganz einfache Vorgaben, jeder kann sich so etwas zuhause basteln. Es ist die Idee, die zählt, und nicht die dingliche Sache.


E. F.: Hier ist der Träger die Wand während es gegenüber ja noch das klassische Bild ist.


H. J. G.: Das versuche ich immer zu überspielen, dieses Bildermachen, Malen, Leinwand, Farbe, das ist heute für mich eigentlich nicht mehr wichtig. Aus praktischen Gründen für Ausstellungen ist ein Leinwandbild gut, wenngleich man natürlich Installationen machen kann, aber die Malerseite ist nicht sehr wichtig.


E. F.: Das folgende Bild „Diagonale Permutation II“ von 1997 folgt wiederum diesem Prinzip.


H. J. G.: Ja, hier habe ich diese 4 x 4 Elemente durch eine Diagonale geteilt, oben ist immer ein kleineres, unten ein größeres Dreieck. Hier sind immer die gleichen Farben und dort sind immer die Mischungen. Durch diese Kombination bin ich draufgekommen, dass die benachbarten Formen immer die Umkehrung darstellen, also die gleichen Farben, jedoch umgekehrt auftauchen. Das habe ich nicht vorausgesehen, sondern dabei entdeckt nach dem System. In den nächsten Werken sind es Winkelformen und Blindstellen, dadurch sind es eigentlich nur noch drei pro Zeile, aber hier spielen die Abstände eine Rolle. Durch eine leichte Änderung der Spielregeln, die man aber durchhalten muss, entstehen neue Möglichkeiten.


E. F.: Auch beim großen Werk, der „Budapest Permutation“, finden wir wieder das System der vier Farben und vier Größen, jedoch wieder mit dem Bildträger Wandfläche.


H. J. G.: Ja, das habe ich für die Ausstellung in Budapest gemacht. Die Vorgabe durch den Raum war sehr speziell durch die Bogenformen der Wände im Vasarely Museum. Damit konnte ich dann wieder etwas recht Groß-Dimensioniertes entstehen lassen, bei dem der Aufwand an Mitteln wiederum relativ klein ist, aber die Wirkung doch sehr groß.


E. F.: Schlussendlich noch „Grand trémolo“ von 2000, das sich vergleichbar mit „Catenaria“ oder „Rechtwindschief“, aufgrund seiner Form etwas abhebt.


H. J. G.: Das ist so ein Seitensprung, den ich einmal gemacht habe, diese Rundform mit der Kombination von gewellten, bewegten und geraden Linien, die aber bei mir nie gezeichnete Linien sind, sondern sie entstehen physisch als Zusammenstoß von Flächen. Man kann eine Linie ja immer so sehen, dass sie eine Fläche in zwei Teile trennt oder aber auch entsteht, dass zwei Flächen zusammengefügt werden.


E. F.: Lieber Hans Jörg, vielen Dank für deine Ausführungen zu deinen Werken in dieser Ausstellung im Museum der Wahrnehmung!



BIOGRAFIE

 

HANS JÖRG GLATTFELDER, 1939 in Zürich geboren, ist konstruktivistischer Maler und Autor, der anfänglich durch die “Züricher Konkreten“ beeinflusst war, jedoch bald durch selbständige Fragestellungen einen eigenen Weg fand. In den späten 60er-Jahren untersuchte er die Machbarkeit von Kunst mit anonymen, industriellen Produktionsmethoden (Pyramidenreliefs). In der nächsten Dekade widmete er sich der Problematik der „nicht-euklidischen Geometrie“ zur Erzeugung von konkreten Kunstwerken und schuf die Werkserie der „nicht-euklidischen Metaphern“. In zahlreichen Artikeln, Interviews und Symposiumsbeiträgen setzt sich GLATTFELDER für die Präsenz einer rational sich konstituierenden Kunst ein („Meta-Rationalismus“, 1983) und fordert zu einer interdisziplinären Kommunikation zwischen den zahlreichen Konstruktivismen in Wissenschaft und Kunst auf („methodischer Konstruktivismus“). Die lange Liste seiner Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen umfasst hauptsächlich den europäischen Raum, und zwar Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich, Polen, die Schweiz, Serbien, Schweden und Ungarn, und darüberhinaus Australien, Indien und die Vereinigten Staaten. HANS JÖRG GLATTFELDER lebt und arbeitet nach mehrjährigen Aufenthalten in Italien und Frankreich seit 2014 in der Schweiz, in Basel.

 

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